Lina Stadlin-Graf - stille Pionierin
Juristin und Redaktorin im Schatten der Männerwelt.
Lina Graf wird am 20. März 1872 in Speicherschwendi geboren. Ihre Mutter hat als Witwe den Landwirt Johann Graf geheiratet. Die beiden Stiefgeschwister mütterlicherseits sind bei der Geburt von Lina bereits fast resp. ganz erwachsen, ihr leiblicher Bruder Johannes ist fünf Jahre jünger.
Lina besucht die Schule in Speicherschwendi (Primarschule) und Speicher (Oberschule = Sekundarschule). Sie muss eine talentierte Schülerin und auch wissbegierig gewesen sein. Ihr Vater setzte sich für eine gute Bildung seiner Tochter ein. Sie besuchte ein Seminar oder Gymnasium, allerdings taucht ihr Name weder auf einer Klassenliste der Kantonsschule St. Gallen, noch des Seminars Rorschach, noch des Töchterinstituts Willmersdorf bei Ravensburg auf, Trogen und Kreuzlingen nahmen zu jener Zeit noch keine Mädchen auf.
Johann Graf - Vater und Förderer
Linas Vater (*1827) spielte eine entscheidende Rolle in ihrem Leben. Er war für seine Zeit sehr belesen, hatte eine umfangreiche Bibliothek, sass im Revisionsrat für die Kantonsverfassung von 1876 und von 1889 -1895 als Liberaler im Kantonsrat. Schon vorher - und wohl entscheidend für die weitere Entwicklung von Lina - war er ab 1865 Mitglied des Gemeindegerichts, später als Kantonsrat Mitglied der Staatswirtschafts- und Justizkommission, Verhörrichter und während vielen Jahren Rechtsvertreter in Streitfällen, wie Gerichtsprotokolle des Bezirksgerichts Mittelland, des Kriminalgerichts und des Obergerichts zeigen. Laien, die damals anwaltschaftliche Tätigkeiten ausübten, bezeichnete man auch als Rechtsagenten. Als solcher hatte er sich im Laufe der Zeit grosses juristisches Wissen erworben, man nannte ihn deshalb auch „Richter Graf“.
Johann Graf erkannte Linas Talent und - eher aussergewöhnlich für die damalige Zeit - förderte sie nach Kräften, zunächst durch den Besuch der Oberschule in Speicher, anschliessend für eine weiterführende Schule (Gymnasium? Seminar?). Dabei dürften ihm persönliche Kontakte zu Bartholome Tanner (bis 1880 Lehrer in Speicherschwendi) und ev. dessen Freund Johann Martin Müller, erster Redaktor der Appenzeller Zeitung und ehemaliger Oberlehrer in Speicher hilfreich gewesen sein. Ebenso kannte er aufgrund seiner Rechtsagententätigkeit bestimmt Eugen Huber, der von 1877 bis 1881 Polizeivorsteher und Untersuchungsrichter in Trogen war. Diese Bekanntschaft dürfte für den späteren Studienentscheid Linas von Bedeutung gewesen sein.
Hörerin - Studentin - Juristin
1891 schreibt sich Lina als Hörerin für das Wintersemester 1891/92 an der juristischen Fakultät der Universität Zürich ein. Es ist möglich oder gar wahrscheinlich, dass Lina Graf der Antrittsvorlesung von Emilie Kempin-Spyri, der ersten promovierten Juristin und Privatdozentin der Schweiz erlebte. Der hartnäckige Kampf von Emilie Kempin-Spyri um Frauenrechte hat vielleicht auch Lina Graf beeinflusst.
Das Zeugnis, das Lina Graf nach ihrem Semester als Hörerin erhält, erlaubt es ihr, sich regulär als Studentin zu immatrikulieren. Sie entscheidet sich für Rechtswissenschaften und zwar an der Universität Bern, wo sie ihr Studium im Jahre 1892 beginnt. Für Bern hat sie sich möglicherweise deshalb entschieden, weil im gleichen Jahr Eugen Huber als Professor nach Bern berufen wurde. Huber, soviel ist bekannt, bewunderte die beachtlichen Rechtskenntnisse der appenzellischen Rechtsagenten resp. Laienrichter aus seiner Zeit in Trogen, Lina Graf dürfte von ihrem Vater von Huber gehört, oder ihn sogar gekannt haben.
Ihre Studienzeit in Bern ist sogar dokumentiert in der "Bierzeitung der löblichen Juristerei" vom 15. Juli 1893, wo sie, ganz im Sinne von "was sich liebt, das neckt sich", als aufmerksame Studentin namentlich und bildlich Erwähnung findet! Zunächst auf der Frontseite und dann als "Appenzellerin" in einem ulkigen Gedicht auf Seite 2.
Lina ist die zweite Schweizerin, die 1895 ihr Jurastudium mit dem Doktortitel abschliesst und zwar „magna cum laude mit Auszeichnung“. Mit ihrem Doktorvater Eugen Huber bleibt sie zeitlebens freundschaftlich verbunden. Er ist Verfasser des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, zu dem auch Lina Graf mit ihrer Doktorarbeit einen Baustein beisteuerte.
Ihre Dissertation mit dem Titel "Rechtliche Stellung der Operae liberales im OR" (Operae liberales = freie Berufe wie Ärzte, Lehrer etc.) erhielt im Examen die Auszeichnung "magna cum laude", in den Bemerkungen fügte Huber bei "Die Promotion erfolgt mit besonderer Auszeichnung." Huber war offenbar beeindruckt von Linas Arbeit und Studiengang, begleitete er sie doch nach dem Examen zusammen mit seiner Frau nach Hause. Das Ehepaar Huber und Lina Graf blieben zeitlebens in Freundschaft verbunden. Der Studienabschluss von Lina ist sogar in der appenzellischen Presse vermerkt![1][2]
Heirat - Hausfrau - Redaktorin
Nach ihrem erfolgreichen Studium kehrt Lina 1895 für rund zwei Jahre zurück nach Speicherschwendi. Sie hatte die Möglichkeit, als Anwältin zu arbeiten. Ob sie es wollte oder tat, ist nicht belegt. Zu dieser Zeit ist ihr Vater hauptsächlich als Rechtsagent tätig, es ist anzunehmen, dass sie ihren Vater unterstützte. Gestützt wird diese Vermutung durch einen Brief von Camille Vidart, einer führenden Feministin, an den Frauenrechtler Louis Frank vom 30. September 1896, wo es heisst, Lina Graf arbeite mit ihrem Vater in dessen Anwaltskanzlei.
Während des Studiums lernt Lina ihren späteren Ehemann Hermann Stadlin[3] kennen, auch er Jurist mit Doktortitel, allerdings, wie sie später oft schelmisch bemerkte: „nur mit summe cum laude - ohne Auszeichnung!“ Am 2. März 1897 heiraten die beiden in St. Gallen.[4] Aussergewöhnlich für die damalige Zeit, aber vielleicht typisch für das Paar, war ihre Religionszugehörigkeit: Lina war und blieb reformiert, Hermann Stadlin war und blieb katholisch, ein Umstand, der vor allem in der Familie Stadlin und im katholischen Zug nicht gern gesehen war.
Nach der Heirat zieht das Paar mit dem inzwischen geborenen Sohn Kurt nach Zug, wo Hermann Stadlin ein Anwaltsbüro eröffnet. Lina kümmert sich zunächst um den Sohn und das Haus, die Villa Freya. Nachdem Hermann Stadlin die Redaktion des freisinnigen „Zuger Volksblatt“ übernimmt, ist es Lina Stadlin-Graf, die die eigentliche Redaktionsarbeit macht und Beiträge im Namen ihres Mannes schreibt. Hermann Stadlin wechselt später in die Politik, wo er in die Regierung des Kantons Zug gewählt wird, später auch in den Nationalrat (1911 - 1920). Nach seiner Zeit als Regierungs- und Nationalrat wird Hermann Stadlin 1920 Direktor der Schweizerischen Volksbank in Bern, einen Posten, den er 1933 verliert, nachdem die Bank beinahe in Konkurs ging.
Im Namen des Ehemanns und anonym
Lina Stadlin-Graf redigiert von 1902 bis 1920 das dreimal wöchentlich erscheinende „Zuger Volksblatt“, ein Kampfblatt des Freisinns. Offiziell ist Hermann Stadlin der Redaktor. Lina Stadlin-Graf redigiert die Zeitung bestimmt im Sinne und nach Absprache mit ihrem Mann, der die Öffentlichkeit der Knochenarbeit im Büro vorzieht.
Die Freiheit, auch Themen aufzugreifen, die nicht unbedingt „Mainstream“ sind, nutzt Lina immer wieder. Sie platziert Artikel zu frauenspezifischen Themen und tritt so mit „feiner Klinge“ für die Gleichberechtigung der Frauen auf allen Ebenen der Gesellschaft ein. Im mehrheitlich konservativen Zug ist öffentlich bekannt, dass solche Beiträge aus der Feder von Lina Stadlin-Graf stammen. Den Konservativen blieb, diese zähneknirschend zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Eugen Huber 1915 schreibt: „Sie bleibt bei ihren Sympathien u. ist wieder warm für sie eingetreten.“, dann könnten damit Fragen der Frauenrechte gemeint sein, die sie im Gespräch mit Huber in die Diskussion einbrachte.
Es ist kaum ein Zufall, dass die durch die Schweizerische Volksbank im Jahr 1932 gegründete erste finanzielle Beratungsstelle für Frauen in der Schweiz unter die Direktion Hermann Stadlins fiel. Obwohl nicht nachgewiesen, ist zu vermuten, dass die Idee dazu auf Initiative oder sanften Druck seiner Gattin kam.
Ein "typischer" Beitrag
Die Ausbildung von Mädchen und Frauen und auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft waren immer wieder Thema in den Beiträgen von Lina Stadlin-Graf im Zuger Volksblatt, dies ganz im Sinne der damaligen Bestrebungen des Bundes Schweizerischer Frauenvereine.
Zurück zur Rechtsberatung
Zwischen 1920 und 1933 leben Stadlins in Bern, bedingt durch den Direktorenposten Hermann Stadlins bei der Schweizerischen Volksbank. Nach der Entlassung als Bankdirektor zieht das Paar nach Beckenried in das Haus „Seegüetli“ bei der Schifflände. Dort widmen sich beide juristischen Beratungen für Streitereien und Konflikte aller Art in ihrer Wohngemeinde. Damit kehrt Lina Stadlin-Graf zu ihrer ersten juristischen Tätigkeit zurück, die sie zusammen mit ihrem Vater einst ausgeführt hatte.
Lina Stadlin-Graf stirbt am 19.11.1954 in Beckenried, zwei kurz gefasste Nachrufe erscheinen in den Zuger Zeitungen.[5]
Der Doktorhut im Besenschrank
Es gibt kaum ein treffenderes Bild für das Leben von Lina Stadlin-Graf als den Titel des Buchs „Der Doktorhut im Besenschrank.“ Autorin Franziska Rogger beschreibt darin Biographien von Frauen, die bezüglich ihrer universitären Ausbildung Pionierinnen ihrer Zeit waren, ihre Talente und erworbenen Fähigkeiten aber nur selten oder gar nicht anwenden konnten (oder durften).
Lina Stadlin-Graf erlebte nicht mehr, wofür sie sich in Zeitungsartikeln und in Gesprächen mit Juristen zeitlebens leise, aber hartnäckig eingesetzt hatte: Die Stellung und Gleichberechtigung der Frauen auf gesellschaftlicher und politischer Ebene, was eben nicht nur das Stimm- und Wahlrecht (ab 1971) beinhaltete, sondern auch das Ausüben einer Berufstätigkeit oder das Unterschreiben eines Vertrags, ohne dafür die Einwilligung des Ehemanns einholen zu müssen (bis 1988).
Trotz ihres brillanten Studienabschlusses blieb Lina Stadlin-Graf als Anwältin „unsichtbar“, ebenso als Redaktorin. Ihre "Unsichtbarkeit" zeigt sich auch darin, dass von ihr nur das hier publizierte Bild verfügbar ist. Dass sie die Öffentlichkeit scheute, mag mit ihrem Charakter zusammen hängen, möglicherweise auch damit, dass sie auf einem Ohr nahezu taub war und sich deshalb in kleinen Gesprächsrunden wohler fühlte. Neben ihrer Redaktionsarbeit befasste sie sich mit philosophischen Fragen und traf sich dazu in engagierten Diskussionsrunden mit Gleichgesinnten.
In einer abschliessenden Betrachtung schreibt Michele Luminati[6] über Lina Stadlin-Graf: „Kann sie als Vorkämpferin oder Pionierin bezeichnet werden? War sie ihrer Zeit voraus? Oder ist sie gescheitert …? Vielleicht wird man ihr gerechter, wenn man sie als charakterstarke Frau betrachtet, die situationsbedingt zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individuellen Spielräumen ihren Weg bewusst gegangen ist. …“
Vage Erinnerung und eine überraschende Begegnung
Fanny Rohner-Graf ist eine Grossnichte von Lina Stadlin-Graf. Ihr Vater, auch ein Johannes Graf, kannte seine Tante Lina nicht persönlich, hörte aber von ihr ab und zu von seinem Vater, dem Bruder von Lina. An die Erzählungen ihres Vaters hat die 93-Jährige Fanny noch vage Erinnerungen und eine Erinnerung an eine zufällige, persönliche und überraschende Begegnung in Speicherschwendi um das Jahr 1958.
Obwohl Lina Stadlin-Graf nach ihrer Heirat kaum mehr in die Ostschweiz zurück kam und scheinbar keinen Kontakt mehr mit ihren Verwandten in Speicherschwendi pflegte, wurde ihr dennoch postum der Wunsch erfüllt, in ihrer Heimatgemeinde die letzte Ruhe zu finden.
Lina Stadlin-Graf in Publikationen
Franziska Rogger in „FrauenLeben Appenzell“
Am bekanntesten dürfte der Beitrag von Historikerin und Archivarin der Universität Bern, Franziska Rogger in „FrauenLeben Appenzell“ sein unter dem Titel „Die Juristin und Redaktorin Lina Stadlin-Graf, 1872-1954, Respektiert, nicht akzeptiert!“, erschienen 1999 in Herisau. Darin beschreibt Franziska Rogger Leben und Wirken von Lina Stadlin-Graf. Eine verkürzte Biographie, ebenfalls von Franziska Rogger, findet sich im Historischen Lexikon der Schweiz.
Mary Jane Mossmann in „The first Woman Lawyers, ..."
In ihrer Publikation „The first Woman Lawyers, A Comparative Study of Gender, Law an the Legal Professions“, erschienen 2006 in Oxford und Portland, Oregon weist Mary Jane Mossmann auf Lina Graf hin: „it was Lina Graf, who graduated with a doctorate in law from Bern in 1895, who became the first woman to practice law in Switzerland in July 1896.“ Dabei beruft sich Mossmann auf das 1898 erschienene Werk „La femme avocat, Exposé historique e juridique de la question“ des Anwalts und Vorkämpfers für die Frauenrechte Louis Frank aus Belgien.
Louis Frank in „La femme avocat, Exposé historique e juridique de la question“
Louis Frank erwähnt darin Lina Graf: „M.lle Lina Graf, de Speicher, reçue en juillet 1895 docteur en droit par l’Université de Berne, s’est vu reconnaître sans difficultés, le droit d’exercer l’avocature dans son canton d’origine (Appenzell R.E.)“
Die Bemerkung, Lina Graf habe das Recht, in Ausserrhoden als Anwältin zu arbeiten, bestätigt ein Schreiben von L. Lugeon aus Genf [vermutlich L.-M. Lugeon aus Genf], der Louis Frank am 7. Oktober 1896 diesen Sachverhalt bestätigte: „Mlle LG […] peut exercer la profession dans son canton d’origine.“
Camille Vidart an Louis Frank
Camille Vidart, eine führende Feministin schreibt am 30. September 1896 an Louis Frank: „Maintenant, parlons de Mlle. Graf. Avant de [Datum unleserlich], je me suis informée de ses circonstances et de son domicile, on m’a répondu qu’elle travaille avec son père, qui a une étude d’avocat à Speicher …“
Camille Vidart unterrichtete von 1880-1884 an der Höheren Töchterschule in Zürich und ist am 26. Mai 1900 eine der sechs Gründerinnen des „Bundes Schweizerischer Frauenvereine“, heute „Alliance F“
Michele Luminati in „Auf zu neuen Ufern!“
Michele Luminati[7] hat alle bis 2021 verfügbaren Informationen in der Festschrift „Auf zu neuen Ufern!“, erschienen im Stämpfli Verlag, Bern, neu bewertet im Kapitel „Lina Graf: erste Anwältin der Schweiz?“ Er lässt die Frage offen, denn 1887 wurde Emilie Kempin-Spyri als erste Schweizer Juristin promoviert und Anna Mackenroth als erste Schweizer Rechtsanwältin 1894, erhielt aber erst 1900 das Zürcher Anwaltspatent, da Frauen zuvor davon ausgeschlossen waren. Als zweite zugelassene Anwältin in der Schweiz gilt Nelly Favre 1904 in Genf. Fest steht nach Michele Luminati, dass Lina Graf die zweite (und erste schweizerische) Juristin war, die am 20. Juli 1895 an der Universität Bern promovierte.
Michael von Orsouw und Iris Blum in Stadtmagazin Zug
Im Stadtmagazin Zug Nr. 36, Sonderausgabe „150 Jahre Einwohnergemeinde Zug“ treffen Michael van Orsouw und Iris Blum unter dem Titel „Lina Stadlin-Graf - Eine Frau als Phantom“, Lina Stadlin-Graf zu einem lesenswerten fiktiven Gespräch.
Eugen Huber in „Briefe an die tote Frau“
Lina Graf und Eugen Huber, ihr Doktorvater, standen zeitlebens in freundschaftlichem Kontakt. Hubers erste Ehefrau soll einen nicht unwesentlichen Anteil an seinen Publikationen gehabt haben. Nach dem Tod seiner Gattin Lina Huber-Weissert im Jahre 1910 schrieb ihr Huber acht Jahre lang fast täglich einen Brief mit Berichten über seine Arbeit und sein Leben. Diese mittlerweile veröffentlichten „Briefe an die tote Frau“ erwähnen einige Male auch Lina Stadlin-Graf.
6. Dezember 1911
[6. Dezember 1911, ein Besuch von Lina Stadlin-Graf bei Eugen Huber nach dem Tod von dessen Gattin] Heute von zehn bis zwölf Uhr war Frau Stadlin-Graf bei mir. Sie begrüsste mich schluchzend, u. war dann so lieb u. teilnahmsvoll. Sie hat Dich gern gehabt. Aus dem Gespräch entnahm ich ein Neues, das ich nicht gewusst oder wieder vergessen hatte, dass nämlich der Hauptangriff der Ultramontanen [Verfechter eines konservativen, kirchentreuen Katholizismus] stets darauf gegangen sei, dass sie sich nicht haben kirchlich trauen lassen! Noch in letzter Zeit haben die Geistlichen sie förmlich darum anflehen lassen das nachzuholen. Auch Geld sei ihnen offeriert worden (wohl zu einer Reise ins Ausland), aber sie tun es grundsätzlich jetzt erst recht nicht. Die Opposition gegen die Nationalratswahl haben die Gegner dann aber doch bleiben lassen. Ihr Kurs ist alles, aber nicht in Worten, nur mittelbar zu bemerken. Sie hätte sich gern auf ein Landgut am Zuger Berg hinauf gezogen, aber es gehe eben doch nicht.
Hintergrund: Im Herbst 1911 waren Nationalratswahlen, dabei wurde die Kandidatur von Hermann Stadlin-Graf aus konfessionellen Gründen bekämpft. Hermann Stadlin-Graf war katholisch, Lina reformiert, sie liessen sich nicht kirchlich, nur zivilrechtlich trauen.
1./2. Januar 1915
… Ich hatte heute viele Briefe, zum Teil unerwartete, zu schreiben. So an Lina Stadlin-Graf, die mir einen interessanten Excours über ihren u. ihres Kurts [Sohn von Hermann und Lina Stadlin-Graf] Deutschfreundlichkeit zugesandt. Das geht nun freilich über das Schweizerische hinaus u. gipfelt in dem Ausspruch, Rückkehr zum Deutschen Reich wäre lebhaft zu begrüssen. Doch wir kennen ja Lina Graf. Es nimmt bei ihr alles so wunderbar Gestalt an, dass sie niemals als objektive Beobachterin selbst nur anerkannt zu werden beanspruchen würde.
25. Mai 1915
Dann kam – schon wieder – Frau Lina Stadlin-Graf u. blieb von zehn bis zwölf Uhr. Wir sprachen über alles, was jetzt gerade zu besprechen war. Besondere Mitteilungen hatte sie mir nicht zu machen. Sie bleibt bei ihren Sympathien u. ist wieder warm für sie eingetreten. Ihr Mann hat zur Zeit Kommissionssitzung in Bern.
Links
Leonardo Longhini in "Nomos e-Library, Juristinnen: Lina Stadlin-Graf"
Baumann, Jan-Henning in: Historisches Lexikon der Schweiz: Schweizerische Volksbank, Version vom 30.10.2012
Rogger Kappeler, Franziska: Lina Stadlin-Graf, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 30.11.2010
Eugen Huber in Briefe an die tote Frau
Quellen
Rogger, Franziska: „FrauenLeben Appenzell“, Kapitel „Die Juristin und Redaktorin Lina Stadlin-Graf, 1872-1954, Respektiert, nicht akzeptiert!“, Herisau, 1999
Luminati, Michele: Lina Graf. Erste Anwältin der Schweiz? Geschichte einer Abwesenheit, in: Müller, Karin und Schwarz, Jörg (Hg.): Auf zu neuen Ufern! Festschrift für Walter Fellmann, Bern 2021, S. 587–603
Huber, Eugen: "Briefe an die tote Frau", https://doi.org/10.36950/EHB.1915 Briefe an die tote Frau
Michael van Orsouw und Iris Blum: „Lina Stadlin-Graf - Eine Frau als Phantom“ in: Stadtmagazin Zug Nr36, S. 25-27
Fanny Rohner-Graf, Grossnichte von Lina Stadlin-Graf: mündliche Aussagen Mai 2025
- ↑ Appenzeller Zeitung vom 23. Juli 1895: Speicher. An der Hochschule Bern hat Fräulein Lina Graf von Speicher sich den Titel einer Doctorin juris summa cum laude (mit höchster Auszeichnung) erworben. Seit der Promotion von Frl. Kempin ist dies der zweite derartige Fall in der Schweiz.
- ↑ Appenzeller Landeszeitung vom 24. Juli 1895: Fräulein Lina Graf, Tochter des Herrn Kantonsrath Graf in Speicher, hat am 20. ds. in Bern das juridische Doktorexamen mit hoher Auszeichnung bestanden. Wir gratulieren!“
- ↑ Morosoli, Renato: Hermann Stadlin, in: Historisches Lexikon der Schweiz, Version vom 24.02.2012
- ↑ Appenzeller Zeitung vom 13. Februar 1897 unter „Zivilstands-Mitteilungen, Eheverkündigungen“: Speicher. Hermann Stadlin, Dr. jur., von und in Zug, von Josef und Josefine Kaiser † mit Lina Graf von und in Speicher, von Johs. und Anna Katharina Frischknecht.
Auch in der Appenzeller Landeszeitung vom 17. Februar 1897 wird in der gleichlautenden Eheverkündigung Hermann Stadlin als „Dr. jur.“ aufgeführt, und Lina Graf nur „von und in Speicher“ - ↑ Zuger Volksblatt, 26. 11. 1954 unter dem Titel "Totentafel": In Beckenried ist in ihrem Heim bei der Dampfschifflände, wo sie die letzten Jahre in stiller Zurückgezogenheit gelebt hatte Frau Dr. jur. Lina Stadlin geb. Graf im hohen Alter von 82 Jahren gestorben. Gebürtig von Herisau [korrekt wäre: Speicher], reichte sie nach erfolgreichen juristischen Studien, hauptsächlich an der Universität Bern (wohl als eine der ersten Frauen in der Schweiz), dem zugerischen Rechtsanwalt Dr. H. Stadlin die Hand zum Ehebunde und stand ihm in seinen vielseitigen Beanspruchungen als treue Mitarbeiterin zur Seite. Insbesondere hatte sie jahrelang mit sehr fleissiger Feder die Redaktion des „Zuger Volksblatt“ besorgt und manchen Strauss wacker und mit gewandter Klinge ausgefochten. Obschon sie nach der Übersiedlung nach Bern und erst recht nach Beckenried den häuslichen Kreis kaum mehr verliess, verfolgte sie die Vorgänge im Zugerland immer noch mit wachsamem Auge. Nun ist es um die forsche Kämpferin völlig still geworden. Sie ruhe im Frieden!
- ↑ Luminati, Michele: Lina Graf. Erste Anwältin der Schweiz? Geschichte einer Abwesenheit, in: Müller, Karin und Schwarz, Jörg (Hg.): Auf zu neuen Ufern! Festschrift für Walter Fellmann, Bern 2021, S. 587–603;
- ↑ Luminati, Michele: Lina Graf. Erste Anwältin der Schweiz? Geschichte einer Abwesenheit, in: Müller, Karin und Schwarz, Jörg (Hg.): Auf zu neuen Ufern! Festschrift für Walter Fellmann, Bern 2021, S. 587–603;